ZUM SCHLUSS

PRAJÑAPARAMITA, DIE GÖTTIN der transzendenten Weisheit, war gerade in eine tiefgründige Debatte mit Buddhas engstem Schüler, Shariputra, vertieft. Bei der Argumentation ihrer gegensätzlichen Ansichten über die Natur der Wirklichkeit war Shariputra ihr nicht gewachsen. Es ist vielleicht der gewaltigste Fall von Mansplaining aller Zeiten – Shariputra versucht Prajñaparamita – also die Verkörperung per se all dessen, was es überhaupt zu wissen gibt – zu überlisten. Während Prajñaparamita Shariputra weiterhin mit ihren Argumenten übertrumpfte und ein »Schachmatt« nach dem anderen für sich verbuchte, überlegte sich Shariputra, die Dinge auf einer anderen Ebene anzugehen. Er wurde persönlich, chauvinistisch. Er griff auf eine weit verbreitete Annahme seiner Zeit zurück – die der männlichen spirituellen Überlegenheit – und versuchte, die Göttin auf der Grundlage ihrer Identität zu disqualifizieren. Er forderte sie heraus: »Wenn du so erleuchtet bist, was tust du dann im Körper einer Frau? Wärst du tatsächlich verwirklicht, dann würdest du deinen Körper in eine männliche Form verwandeln.« Was Prajñaparamita als Nächstes tat, vermittelt viel von der radikalen, paradoxen, unbeirrbaren Natur des erwachten Zustandes: Sie benutzte ihre übernatürlichen Kräfte, um den Körper mit Shariputra zu tauschen. Nun war sie in seinem männlichen Körper und Shariputra im weiblichen Körper von Prajñaparamita. Daraufhin entgegnete Prajñaparamita aus dem männlichen Körper von Shariputra heraus mit seiner eigenen männlichen Stimme: »Wenn du so erleuchtet bist, was tust du dann im Körper einer Frau?! Warum verwandelst du deinen Körper nicht in einen männlichen?« Und Shariputra, aufgelöst, desorientiert, völlig verwirrt, außerstande sich zurückzuverwandeln – und zudem schockiert beim Klang seiner weiblichen Stimme, als er deswegen herummoserte –, gab sich geschlagen.

SOLCH GÖTTLICHER SPASS UND TREFFENDER HUMOR finden sich in den klassischen Texten und Schriften des Buddhismus und des Hinduismus. Doch dieser Moment, der im Vimalakirti-Sutra zu finden ist, bietet uns eine unvergleichliche gegen Sexismus gewandte Auseinandersetzung, bei der gleichzeitig die tiefsten, grundlegendsten Lehren des Buddhismus vermittelt werden. Das ist kein Zufall. Prajñaparamita, mit einem Auftreten, das dem des modernen Streetart-Künstlers BANKSY nicht unähnlich ist, spielt Shariputra einen Streich, der die haltlose, schädliche, anmaßende Vorstellung offenlegt, dass der Körper, in dem sie lebt, in irgendeiner Weise ihre Gelehrsamkeit und ihre spirituellen Fähigkeiten schmälern könnte. Zugleich besteht sie jedoch wortlos darauf, dass der Körper, in dem sie gekommen ist, doch von Bedeutung ist. Es ist weder Zufall noch eine Spielerei, dass sie sich in weiblicher Form manifestiert. Dieser Mythos wurde ganz bewusst aufgezeichnet. Zu dokumentieren, dass die transzendente Weisheit sich im Körper einer Frau manifestierte, inmitten einer Gesellschaft, in der Frauen schlecht behandelt wurden – was bis hin zu Mord reichte –, war an sich schon bedeutungsvoll.

Und damit nicht genug. In der Geschichte der Prajñaparamita werden viele Themen, die wir in diesem Buch erörtert haben, elegant aufgegriffen. Zunächst ist es ziemlich deutlich, dass Shariputras ignorante Einstellung bei Prajñaparamita einige heftige Gefühle auslöst. Ihre Entgegnung ist unbestreitbar scharf, obwohl ihre Botschaft dabei kristallklar bleibt. Sie erkennt zu Recht, dass sie Shariputras Gemeinheit nicht zu akzeptieren braucht, und so gibt sie ihm sein beleidigendes, ignorantes »Geschenk« gleich wieder zurück, damit er es behält. Sie stellt ihn mit einer Geschicklichkeit ohnegleichen zur Rede, sagt (ohne auch nur einen Funken Schuldgefühle): »Nein … verdammt noch mal, Nein!«, und geht das schwierige Gespräch ohne Zögern an.

Shariputra, der seine Voreingenommenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht voll zur Schau stellt, lässt auf entlarvende Weise erkennen, dass er seine kulturellen Annahmen nicht hinterfragt hat. Er ist ein Opfer seiner eigenen negativen Voreingenommenheit, die er bestätigen will: Er geht davon aus, jemand mit Merkmalen, die sich von seinen eigenen unterscheiden, sei minderwertig, und führt als Beweis dafür eine gesellschaftliche Norm ohne jede reale Grundlage an. Das ist das altindische Äquivalent dazu, einen Artikel in sozialen Medien zu reposten, ohne ihn gelesen oder seine Quellen geprüft zu haben. Wie bereits erwähnt, deutet schon allein die Tatsache, dass Prajñaparamita im Mythos vorkommt, darauf hin, dass ihre Weiblichkeit tatsächlich eine Rolle spielt.

Dennoch zitiert sie im Weiteren den Buddha: »Alle Dinge sind weder männlich noch weiblich.« Wir können nur zu dem Schluss gelangen, dass ihre Weiblichkeit ein innewohnender Teil ihres erwachten Zustands ist, aber dass dieser Zustand an sich dennoch das Ergebnis ihrer Verbundenheit mit einem Absoluten jenseits solcher Eigenschaften darstellt. Dies – dass nämlich alle Dinge unvorstellbar divers und zugleich Teil desselben höchsten Einen sind und dass diese verschiedenen Ausprägungen beide zu würdigen sind – veranschaulicht das vedische Mantra Achintya bheda abheda tattva. Der Sieg der Prajñaparamita in der Debatte ist ein Call-out, das geschickt und präzise in die Tat umgesetzt wird. Es ist auch ein Moment, der am Ende einer langen, vehementen Debatte kommt, nachdem Prajñaparamita schon viel emotionale Arbeit geleistet hat und dennoch die nötigen Ressourcen findet, um den entscheidenden Schachzug zu machen.

Das Vimalakirti-Sutra erinnert uns daran, dass es nichts Neues ist, sich Unterdrückung und Entmenschlichung entgegenstellen zu müssen – seien sie systembedingt, zwischenmenschlich oder in unserem eigenen Inneren angesiedelt. Unsere spirituellen Absichten sind keine Ausrede, eine solche Arbeit nicht zu tun. Ganz im Gegenteil: Sie bringen uns in Einklang mit einer Tradition, in der wir aus lebendiger Liebe heraus leben, einer Liebe, die das Paradigma nicht ignoriert, dass alles ineinandergreift. Das erinnert mich an das Bild einer älteren Frau, das ich vor Kurzem gesehen habe. Auf einem Demonstrationsmarsch hielt sie ein Schild mit der Aufschrift hoch: »Ich kann nicht glauben, dass ich immer noch gegen diese Scheiße protestieren muss!« Bei ihr musste ich an Prajñaparamita denken, fast zweitausend Jahre nach der Niederschrift des Vimalakirti-Mythos.

Aus lebendiger Liebe heraus leben in einer Welt, in der entwürdigende Strukturen vorherrschen – das ist sowohl unser Dilemma als auch die Antwort darauf. Das Dilemma: Da sind wir nun, öffnen unser Herz durch Meditation für Mitgefühl, arbeiten für eine gerechte Welt – oder zumindest für eine Welt, in der Folter, Sklaverei, Armut und öffentliche Manipulation durch die Mächtigen ausgerottet sind –, und doch ist es eine endlose Arbeit. Die Antwort: ein Leben führen, das in der Liebe zur Welt und zu allen Wesen verwurzelt ist, selbst wenn all das nicht in Ordnung gebracht werden kann. Inmitten des Tumults mutig Anteil nehmen. Uns zu organisieren als einen Akt engagierter Meditation. Uns Borniertheit und Intoleranz entgegenstellen, nicht weil das gerade zeitgemäß ist, sondern weil es einfach das ist, was wir tun. Mitgefühl haben, nicht weil wir uns eine Wirkung davon versprechen, sondern weil es unserem Ethos, unserem seelischen Imperativ entspricht. Vorbehaltlos aufstehen, um des Aufstehens willen. Selbst wenn wir unsere Welt nicht in Ordnung bringen können, wie wollen wir leben? Selbst wenn es niemand sieht, welche Entscheidungen treffen wir? Selbst wenn unser Handeln keine Konsequenzen hat, wie handeln wir? Selbst wenn der Klimawandel alles Leben auf dem Planeten morgen vernichtet, lass uns hinausgehen und ihn und alle Lebewesen darauf schützen. Für Gerechtigkeit zu leben bedeutet nicht nur, dass wir unsere gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, sondern auch, dass wir in der Lage sind, uns unseren moralischen Überzeugungen zu stellen, wenn wir am Ende des Tages in den Spiegel blicken.

Die Geschichte der Prajñaparamita konfrontiert uns auch mit dem Paradox, Einheit aus einem Ich heraus zum Ausdruck zu bringen, das fließend und vielgestaltig ist, innerhalb und außerhalb unseres Körpers zugleich, und das jenseits unserer Definitionen liegt. Wenn jemand »Vielheiten« enthält, dann Prajñaparamita. Und doch präsentiert sie ihre Anteile, zumindest in dieser Geschichte, nicht als disparat und widersprüchlich. In diesem Fall ist es Shariputra – ein hingebungsvoller Dharma-Praktizierender, angeblich nur von seinen weisesten Anteilen beherrscht –, der jene Teile seiner selbst, die noch immer in Unwissenheit verharren, die Oberhand gewinnen lässt. Die transzendente Weisheit zu verkörpern hieße jedoch, dass das System der inneren Teile in gut zusammenwirkender Harmonie und mit Selbstvertrauen arbeitet. So wird Erleuchtung im Buddhismus gesehen: in liebevoller, klarblickender Gemeinschaft mit sich selbst, in sich selbst, zu sein und allen äußeren, »echten« Gemeinschaften zu vermitteln, dass es diese Möglichkeit gibt.

Der Buddha sagte eine Wiederkunft, einen »Buddha der Zukunft« voraus, der in einer gefährdeten Welt Geistesklarheit wiederherstellen würde. Der bekannte buddhistische Lehrer und soziale Aktivist THICH NHAT HANH aktualisierte diese Prophezeiung und wies darauf hin, dass dieser kommende Buddha vielleicht gar keine Person, sondern eher eine Gemeinschaft – Sangha – sein könnte. Man kann sich eine Gemeinschaft vorstellen, die so einig, so stark und weise ist, dass sie die Flutwelle der Zerstörung, auf der wir derzeit reiten, verändert. Mit dem Unterschied, dass bei diesem Szenario kein einziger Mensch allein im Besitz der ganzen Kraft, der ganzen Weisheit und der ganzen Liebe ist. Vielmehr haben die jeweiligen Mitglieder dieses Zusammenschlusses einzelne Aspekte inne, und wenn sie zusammenkommen und zusammenarbeiten, wird diese Erwachte Liebe manifest. Bei dem prophezeiten Buddha, Buddha Maitreya, geht es weniger um das Gefühl der Liebe als vielmehr um Liebe in Aktion, Liebe als radikale Einigkeit, strukturelle Liebe, systemische Liebe. Das ist keine Heils- oder Erlösungsprophezeiung, sondern eine Prophezeiung unseres Potenzials – eines Potenzials, das nicht durch göttliche Bestimmung, sondern durch bewusstes Handeln verwirklicht wird. Hilfe ist nicht im Anmarsch. Hilfe ist schon da. Wir sind die Hilfe. Es gibt keine andere Option. Wir müssen der Buddha Maitreya werden. Wir müssen unseren Teil manifestieren. Wir müssen in der Hitze des Waldbrands die Liebe erwecken. Wir müssen eine solche Arbeit tun, als hinge unser Leben davon ab.

Denn es hängt davon ab.